Kolumne der Wortpiratin in der Mainzer Allgemeinen Zeitung

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Ein Leuchtturm gegen das Vergessen

Auch die Wortpiratin Mara Pfeiffer berichtet in ihrer Kolumne in der Allgemeinen Zeitung Mainz über das Zeitzeugengespräch mit Zvi Cohen am Abend des 15. Januar.

Hier kommt der Text:

Kolumne der Wortpiratin: Ein Leuchtturm gegen das Vergessen

Von Mara Pfeiffer

Zvi Cohen lebte als kleiner Bub im KZ. Dort sollte er verhungern. Auf Einladung von Mainz 05 erzählte der heute 87-Jährige jetzt in Mainz seine bewegende Geschichte - für die Zuhörer und gegen das Vergessen.

MAINZ - Es gibt die Unbelehrbaren, die behaupten, Sport und Politik hätten nichts miteinander zu tun. Man kann sie auch als bequem bezeichnen, weil sie sich davor scheuen, Themen, die uns als Gesellschaft bewegen, anzuerkennen und sich damit auseinanderzusetzten. In Mainz herrscht zum Glück ein ganz anderes Klima und diesem ist es zu verdanken, dass der 15. Erinnerungstag im deutschen Fußball am 27. Januar nicht nur an diesem Datum selbst begangen wird, sondern als „Mainzer Erinnerungswochen“ auch mit einigen begleitenden Veranstaltungen.

Und so war am 15. Januar auf Einladung von Ente Bagdad, dem Fanprojekt Mainz und Mainz 05 im Bündnis „!Nie wieder“ Zvi Cohen Gast im „Haus des Erinnerns“ in der Flachsmarktstraße. Cohen, der meist vor Schülern spricht, scherzte, man habe ihn nicht gleich erkannt, sondern „einen älteren Mann erwartet“, was die geladenen Gäste schmunzelnd zur Kenntnis nahmen. Tatsächlich wirkt der 1931 Geborene eher wie 70 denn kurz vor 90. Er kam in Begleitung seines Bruders, den er als „so genannten Wunschbruder“ vorstellte. Als Bub habe er immer um ein Geschwisterchen gebeten und die Eltern damit selbst im Ghetto Theresienstadt nicht in Ruhe gelassen. Dort schließlich versprach die Mutter: „Wenn wir lebend hier rauskommen...“ – und er erinnerte sie im Winter 1945 im Kibbuz in Palästina an ihr Versprechen.

Es ist ungeheuer wichtig, sich, wenn man in einen solchen Abend geht, zu vergegenwärtigen, die Menschen, die ihre Geschichten aus der Zeit des Krieges erzählen können, sie sterben – es gibt keinen besseren Begriff – aus. Zvi Cohen war zwölf, als er und die Eltern 1943 gemeinsam nach Theresienstadt kamen. Wer viel jünger war, erinnert sich kaum, wer etwas älter war, der ist inzwischen recht sicher schon beerdigt. Zeitzeugenberichte wie die Cohens aber sind sehr wichtig. Denn was damals passiert ist, wissen wir – und wissen doch nicht. Wir haben darüber gehört und gelesen, in der Schule, als Kinder und junge Erwachsene. Trotzdem ist es nicht zu begreifen und der Schrecken, den die brutale Wahrheit dieser Jahre wieder und wieder ganz neu in uns auslöst, wenn sie von einem erzählt wird, der daran so unbeschreiblich gelitten hat, darf unseren Seelen niemals verloren gehen. Diese Geschichte darf sich nie wiederholen.

„Ich war damals viel allein“
Der junge Cohen, damals einziges Kind seiner Eltern, ist sich – da die ihren Glauben nicht aktiv praktizieren – seines Jüdischseins nicht bewusst. Bis nach und nach die Judengesetze erlassen werden und immer mehr von dem, was zuvor ganz selbstverständlich war, aus seinem Leben verschwand. Während die anderen ins Schwimmbad gehen oder ins Kino, wird er gepiesackt, als die Gleichaltrigen längst aus Angst vor den Fliegerbomben im Luftschutzkeller sitzen, steht er am Fenster und sieht in die schaurig erleuchtete Nacht. Seine Eltern leisten Zwangsarbeit und auch er darf als Jude nicht mit in den schützenden Bunker. „Ich war damals viel allein.“

Eines Tages klingelten zwei Uniformierte, um die Familie mitzunehmen. Zvi war alleine daheim und packte seine Habseligkeiten. Was die Mundharmonika solle, fragte einer der beiden und er antwortete, dass er damit musiziere. „Spiel mal was“, forderte der und Zvi spielte, ein Lied, ein zweites und vor dem dritten sammelte er seinen Mut und sagte: „Unter einer Bedingung.“ Der Bub wusste, im Erdgeschoss lebte ein Friseur, der hatte ein Telefon und dem Großvater versprochen, er dürfe es in einer Notsituation nutzen. Zu dem rannte der Zwölfjährige und rief den Vater an. „Sie sind da.“ „Halt sie fest.“ Drei Worte und darin all die Ohnmacht und Angst um den Sohn, von dem er in jenem Moment nicht weiß, ob er ihn je wiedersehen wird.

Zvi kehrt zurück in die elterliche Wohnung, die Soldaten sitzen ohne Mütze gemütlich am Tisch in der Küche. „Da sah ich zwei Menschen, junge Kerle.“ Zvi spielt Mundharmonika. Der Vater erreicht die Mutter, beide stürzen nach Hause, zu dritt werden sie abtransportiert, kommen nach Theresienstadt. Die Soldaten helfen ihnen in den Waggon, da ist kein Schubsen und kein Zerren, sondern ein Moment der Menschlichkeit. Was nützt das, mag man fragen, am Ende aber blieben die drei zusammen, durch die ganze Zeit des Lagers, und gestanden einander, lange, nachdem der Krieg mit all seinen Gräueln vorbei war, das Wissen darum, die anderen beiden ganz in der Nähe zu haben, hat sie getragen und gerettet im Lager, in all der Zeit.

Von Wanzen, Flöhen und Läusen zerbissen
Man muss sich das einmal vorstellen. Man muss innehalten, wenn diese Geschichten erzählt werden und es sich ganz nah und menschlich vorstellen, selbst in dieser Situation zu stecken, nur Monate, nachdem das eigene Leben völlig normal schien. Vollkommen ausgeliefert dieser Willkür. Und man muss den Mut haben und den Zorn, es zu übertragen auf gewisse Dinge, die heute passieren, Bemerkungen wie den Fliegenschiss oder die gezielte Abwertung bestimmter Menschen. Man muss sich bewusstmachen, so fängt es an, so hat das auch damals angefangen – und wenn wir danebensitzen und schweigen, wenn wir glauben, alles erledige sich von selbst und so weit wie damals werde es nie mehr kommen, sind wir naiv und verantwortungslos. Es ist zu spät, um den Anfängen zu wehren, aber wir alle sind in der Verantwortung, jetzt (noch) einzuschreiten, uns zu erheben und unsere Stimme, gegen diese Tendenzen.

Zvi Cohen also lebte im Lager. Er wurde von Wanzen, Flöhen und Läusen zerbissen, litt Hunger, weil es zum Konzept des Lagers gehörte, die Juden nicht durch Waffen oder Gas zu morden, sondern verhungern zu lassen, erlebte den Tod der Großeltern, schaufelte Leichen auf Wagen und fuhr sie zum Verbrennungsofen, spielte in einer Kinderoper mit, weil Theresienstadt in die Welt als das „gute Lager“ verkauft wurde, die Stadt, die Hitler den Juden baute, sah immer wieder die Eltern und schöpfte Kraft und Hoffnung aus dieser Nähe zur Familie.

Der Vater, ein Schneider, nähte Uniformen für die Generäle, seine Mutter war jene unter den Arbeiterinnen, die unangefochten Leistung brachte. Wenn der Ältestenrat der Juden im mehr oder weniger selbstverwalteten Lager nach Freiwilligen für die ungewissen Weitertransporte fragte, schüttelte Livs Vater ein ums andre Mal stumm den Kopf. Bis zu jenem Morgen im Februar 1945, als ein Ende des Krieges in der Luft zu liegen schien. Die Familie gehört zu jenen, die ausgewählt werden aus den Freiwilligen. Sie besteigt einen Zug, ohne zu wissen, ob er ins Verderben oder ins Überleben führt. Er führt in die Schweiz, ins Leben.

Sport und Politik sind untrennbar verbunden
„Man musste sich an die Freiheit gewöhnen. Ich kannte das nicht“, sagt Liv Cohen an einem regnerischen Abend in Mainz in die aufrichtige Betroffenheit seiner Zuhörer hinein. Er spricht klar, er scherzt, ist offen und macht sich verletzlich. Das Land der Täter betritt er nur noch mit seinem Bruder an der Seite, aber er betritt es, immer und immer wieder, um seine Erlebnisse zu erzählen. Dabei muss er nicht dazu sagen, dass diese eine Mahnung sein sollen für folgende Generationen, man spürt das in jedem Satz, der durch den Raum klingt. Schwer vorstellbar, aber doch: Da sitzt jemand und spricht ohne Zeigefinger und redet darüber, wie die Dinge in Deutschland damals gelaufen sind und jederzeit überall passieren können. Er hat sein Leben der Aufgabe gewidmet, daran mitzuwirken, dass die Geschichte sich nicht wiederholt. In den letzten Monaten sieht er sich mit einem Deutschland konfrontiert, in dem Dinge wieder sag- und machbar geworden sind, die längst überwinden schienen. Er kommt weiterhin.

Und er kommt auf Einladung von Mainz 05, dessen ehemaliger jüdischer Vorsitzender Eugen Salomon allen, die diese Farben tragen, mahnend in Herz und Hirn widerklingen sollte. Sport und Politik sind untrennbar verbunden. Auch im Sport zeigte sich die gräuliche Politik einer Zeit, deren Wiederholung es mit allen Mitteln zu verhindern gilt. Und im Sport können wir alle gemeinsam aufstehen und uns starkmachen gegen Kräfte, die diese Zeit nivellieren wollen. Der Erinnerungstag im deutschen Fußball ist diesbezüglich ein Leuchtturm, dessen Licht im Januar besonders hell strahlt. Lasst es uns durch das Jahr tragen, aufrichtig und entschlossen.

 

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